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Familie floh vor der Schulpflicht

Nürnberger zogen nach Österreich - Streit unter Behörden

M. Kasperowitsch

6. Dezember 2003

Manfred Schreiner nennt sich selbst in dieser Frage ohne Scheu einen „Hardliner“. Die Schulpflicht ist für den Leiter des Amtes für Volksschulen selbstverständlich eine unverzichtbare soziale Errungenschaft zum Wohle der Kinder. Sie ist für ihn so unerlässlich wie für einen Polizeibeamten die TÜV-Plakette auf dem Nummernschild eines Autos. Ausnahmen gibt es nicht. Eigentlich.

„In diesem Fall würde ich aber doch gerne ein Buch schreiben mit dem Titel ,Die Grenzen der Schulpflicht‘ oder so“, bekennt Schreiner. Ins Grübeln brachten den Amtsleiter die Ereignisse um die Nürnberger Familie Schonhofer (Vor- und Nachnamen geändert). Sie ist vor der bayerischen Schulpflicht ins Ausland geflohen. Ansonsten hätte die Tochter im äußersten Fall mit der Polizei der Altenfurter Volksschule „zugeführt“ werden müssen, wie es amtlich heißt.

Denn nach einem heillosen Streit, auch der Behörden untereinander, hatte das Amtsgericht dem Ehepaar „in einem Teilbereich das elterliche Sorgerecht“ entzogen. „Das war dann doch zu viel für uns“, erzählt der Vater. Die sechsköpfige Familie lebt inzwischen in Österreich — ohne bayerische Schulpflicht.

Der Beschluss des Amtsgerichts war für die Eltern ein Schock. Für die achtjährige Lisa — sie ist das älteste von vier Kindern der Schonhofers — wurde dem Paar auf Antrag des Schulamtes das Sorgerecht aberkannt, „betreffend alle schulischen Angelegenheiten bezogen auf die Schulpflicht dieses Kindes soweit und solange es seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat“. Zum „Ergänzungspfleger“ wurde das städtische Jugendamt bestimmt.

Mit den öffentlichen Schulen haben die Schonhofers, die zu einer freien, besonders strenggläubigen Gemeinde gehören, vor allem aus religiösen Gründen grundsätzlich ihre liebe Not. Schädliche Einflüsse durch wachsende Gewaltbereitschaft, eine die Kinderseelen verderbende „Vulgär- und Fäkalsprache“ und Drogengefahren wollten sie ihrer Tochter unter allen Umständen ersparen.

Diese „strikte Verweigerungshaltung“, so das Amtsgericht, sei „mit den Grundprinzipien des Kindeswohls unvereinbar und führt langfristig zu sozialen und bildungsorientierten Nachteilen für das Kind“. Es folgte ein deutlicher Hinweis auf ein Urteil des bayerischen Verfassungsgerichtshofes. Danach sollen die Kinder zu „tüchtigen Mitgliedern der Gemeinschaft“ erzogen werden, durch den „gemeinsamen Schulbesuch in das Gemeinschaftsleben“ hineinwachsen. Eine künstliche Abschottung sei prinzipiell sozial schädlich.

Eine deutliche Rüge erteilt das Amtsgericht dem Nürnberger Jugendamt. Es stimme bedenklich, wenn eine Behörde der Missachtung der Schulpflicht nicht entschlossen entgegentrete.

Eine Mitarbeiterin des Allgemeinen Sozialdienstes (ASD) hatte die Familie mehrfach besucht. Marga Schonhofer unterrichtete Lisa zu diesem Zeitpunkt bereits für die 2. Klasse. Die Behördenvertreterin kam in ihrer Stellungnahme gegenüber dem Gericht zu dem Ergebnis, dass es dem Kind an nichts fehlt. Eine Herausnahme Lisas aus ihrer gewohnten Umgebung sei „mit dem Wohle des Kindes nicht vereinbar“.

Der ASD geht sogar noch weiter. Eine „Inobhutnahme mit Fremdplatzierung“ von Lisa, so das Amtsdeutsch, erscheine als unangemessen. Eine „tägliche polizeiliche Bringung zur Schule“ wäre dem Kindeswohl „eher abträglich“. Ein Seitenhieb auf die Kollegen vom Schulamt kam hinzu. Eine Isolation von Lisa, wie dort angenommen, „besteht keinesfalls“.

Eine Vertreterin der Schulbehörde hatte an den zuständigen Richter des Amtsgerichts einen zornbebenden Brief gesandt. Das Verhalten der Eltern sei „dermaßen unverantwortlich und menschenverachtend, dass einem fast die Sprache wegbleibt“, hieß es aus Schreiners Amt. Die Familie sei einzig und allein darauf bedacht, „das Leben in einer Nische . . . ohne Rücksicht auf irgendwelche Regularien der Gesellschaft“ zu führen. Dem Vater bleibe es unbenommen, „diesen Egoismus“ auszuleben, diese Haltung aber „ohne Rücksicht auf Verluste auf die Kinder zu übertragen, kann ich nicht hinnehmen“. Auch wenn das Familienoberhaupt „eine ganze Fußballmannschaft Kinder in die Welt setzt, ersetzt dies nicht das Zusammenleben in der freien Gesellschaft“.

Schreiner steht auch heute noch hinter der Mitarbeiterin, die dies verfasste. Sie habe so handeln müssen, die rechtliche Lage sei eindeutig. Im Eifer des Gefechts habe sie sich aber sicher „nicht immer diplomatisch ausgedrückt“.

Das Oberlandesgericht (OLG) hat den Beschluss des Amtsgerichts inzwischen aufgehoben, erleichtert ist das Ehepaar Schonhofer darüber aber nicht. Das OLG hatte seine Entscheidung nämlich nur damit begründet, dass das Amtsgericht für den Fall „international nicht zuständig ist“. Die Familie habe ihren Lebens-Schwerpunkt bereits im Ausland gehabt, das heißt, kehrt die Familie zurück, geht der Ärger von vorne los.

„Es war für uns nicht leicht, Freunde und Bekannte hier in Nürnberg zu verlassen“, sagt Horst Schonhofer. In seiner neuen österreichischen Heimat hat der gelernte Metzger aber sofort Arbeit gefunden. Und rein schulisch gesehen ist das Nachbarland für die Familie so etwas wie das Paradies. Schonhofer: „Hier wird man nicht in die Ecke von Extremisten gestellt, da ist unser Anliegen was ganz Normales.“ Selbst Schulleiter würden ihre Kinder dort zu Hause unterrichten.

[b]„99 Prozent genehmigt“[/b]

In Österreich gibt es keine Schulpflicht, wohl aber eine Unterrichtspflicht, das bedeutet, die Schonhofers haben Lisa in einer Schule angemeldet und dann die Entlassung in den häuslichen Unterricht beantragt. Horst Schonhofer: „In 99 Prozent der Fälle wird das genehmigt.“

Mindestens einmal im Jahr muss Lisa dort eine Prüfung machen. Die Schonhofers haben sich allerdings dafür entschieden, so einen Test alle drei Monate zu machen. „Wir wollen wissen, wo unsere Tochter eventuell noch Defizite hat, damit wir gezielt reagieren können.“ Hier greife der Staat in die Erziehungsfreiheit eben nur ein, wenn etwas schief zu laufen drohe. An der Schule gibt es auch eine Betreuungslehrerin, an die sich die Familie bei Bedarf wenden kann, außerdem kann sie das schulische Angebot nach Bedarf wahrnehmen.

Ihre erste Prüfung hat Lisa schon hinter sich. Die Schülerin hat in ihrem Zeugnis in Deutsch und Mathe eine 2, ansonsten lauter Einser, von Sachunterricht bis Leibeserziehung. Der zuständige Bezirksschulrat hat die Schonhofers über die Termine für die nächste Prüfung informiert. Kein Wort über eine Gefahr der Isolation oder der Abschottung.

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