Offener Brief unserer Anwältin an das Bundesverfassungsgericht:

 

 

 

GABRIELE ECKERMANN

RECHTSANWÄLTIN

Wienandstraße 2

63303 Dreieich

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Bundesverfassungsgericht

z. H.: Herren Professoren Dr. Hassemer, Dr. Di Fabio, Landau

Postfach 1771

Datum: 07.08.2006

76006 Karlsruhe

 

 

 

Offener Brief

zum Beschluss vom 31. Mai 2006, AZ 2 BvR 1693/ 04

 

 

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Hassemer,

sehr geehrter Herr Prof. Dr. Di Fabio,

sehr geehrter Herr Prof. Landau,

 

mit großer Betroffenheit habe ich als Verteidigerin der Beschwerdeführer in obiger Sache die Begründung Ihres Nichtannahme-Beschlusses vom 31.05.06 sowohl in der Pressemitteilung als auch in dem Beschluss selbst gelesen. Das breite Medieninteresse an dieser Entscheidung macht es erforderlich, Ihnen direkt zu schreiben und diesen Brief auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

 

Ihre Sachdarstellung ist geeignet, das erstinstanzliche Gericht, das die Beschwerdeführer f r e i g e s p r o c h e n hatte („Art. 4 GG lässt im vorliegenden Fall die Verhängung einer Kriminalstrafe gegenüber den Angeklagten nicht zu“) der Lächerlich-keit preiszugeben.

 

Ihre Sachdarstellung ist irreführend. Damit haben Sie es sich leicht gemacht, die Verfassungsbeschwerde abzulehnen und Ihren Nichtannahmebeschluß vor einer Öffentlichkeit zu rechtfertigen, der die Gründe für die Beschwerde nicht bekannt ist.

 

Die Beschwerdeführer haben das Verfassungsgericht n i c h t angerufen, weil sie sich durch „Vermittlung von Kenntnissen über geschlechtlich übertragbare Krankheiten und über die Methoden der Empfängnisverhütung im Rahmen des Sexualkunde-Unterrichts“ in ihren Grundrechten verletzt sahen noch weil sie lieber im Biologieunterricht die Schöpfungs g e s c h i c h t e erzählt gehabt hätten.

 

Diese Ihre Sachdarstellung ist unzutreffend.

 

1. Die Beschwerdeführer haben die Verfassungsbeschwerde erhoben, weil die völlig freie, schamlose, emanzipatorische, fächerübergreifende staatliche Sexualerziehung sie und ihre Kinder in ihren Grundrechten verletzt. Denn ihre eigene Sexualerziehung richtet sich nach den biblischen Normen der Keuschheit und der Enthaltsamkeit bis zur Ehe und ist mit der staatlichen nicht zu vereinbaren.

 

Die Eltern hatten zum Beweis für diese fächerübergreifende Sexualerziehung der Schule Unterrichtsmaterialien* vorgelegt und ausgeführt (S. 15 ff der Beschwerdeschrift = BS):

 

„Aus diesen Unterrichtsmaterialien ergibt sich eine völlig freie, fächerübergreifende Sexualerziehung. Jedes Kind hat die Freiheit, sich sexuell zu betä-tigen, wie es will ... Es kann sich selbst befriedigen, homosexuell, bisexuell sich betätigen, - keiner hat ihm da dreinzureden. Es werden ihm alle Verhütungsmittel genannt – unter grundsätzlicher Verschweigung der Nebenwirkungen - und die Abtreibung als adäquates Mittel, falls es doch zu einer Schwangerschaft kommt ... Diese total emanzipatorische Sexualerziehung hat die Beschwerdeführer in einen unzumutbaren Gewissenskonflikt gebracht durch Verletzung ihrer Glaubensgrundsätze“ (BS S. 16/17).

 

2. Die Beschwerdeführer haben die Verfassungsbeschwerde erhoben, weil die staat-lichen Schulen die Schöpfungstheorie unterdrücken und ignorieren sowie der Wahrheit zuwider behaupten, die Evolutionstheorie sei wissenschaftlich bewiesen, und weil sie durch diese Unterrichtung die christliche Glaubenserziehung zersetzen und Gott zu einem Lügner machen (BS S. 19 ff).

 

3. Die Beschwerdeführer haben die Verfassungsbeschwerde erhoben, weil die staatlichen Schulen ihre Kinder hypnotischen und buddhistischen Praktiken aussetzen. Das Landgericht hat als wahr unterstellt, dass die staatliche Schule hypnotische, buddhistische ... Praktiken zur mentalen Konzentrierung der Schüler anwendet (BS S. 22 f).

 

4. Die Beschwerdeführer haben die Verfassungsbeschwerde erhoben, weil die staatliche Schule die Eltern verächtlich macht, die Kinder zum Ungehorsam gegen die Eltern verleitet und durch die beanstandeten fächerübergreifenden Unterrichtsinhalte in die christliche Familiensphäre und in die Glaubenserziehung der Beschwerdeführer zersetzend eingreift (BS S. 23 ff).

 

5. Die Beschwerdeführer haben die Verfassungsbeschwerde erhoben, weil das Landgericht die rechtswidrige Ansicht vertreten hat - bestätigt vom OLG und nun auch vom Bundesverfassungsgericht -, die „Schulische Bildungs- und Erziehungsziele, die einzelnen Unterrichtsinhalte und Methoden müssen Eltern also gelten lassen, auch wenn sie ihren religiösen Überzeugungen zuwiderlaufen“ (Zitat aus der LG-Entscheidung, BS S. 10). Diese Rechtsansicht steht im Widerspruch zu BVerfGE 93, 1/17 und Art. 2 des 1. ZP der EMRK. Diese Konventionsnorm lautet:

 

"Der Staat hat bei der Ausübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religi-ösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen."

 

 

6. Die Beschwerdeführer haben die Verfassungsbeschwerde erhoben, weil der hessische Staat die Unbeachtlichkeit der Eingriffe in die Glaubensfreiheit der Beschwerdeführer und ihrer Kinder damit begründet hat, dass eine Glaubenserziehung, die auf einem „fundamentalistisch geprägten Weltbild“ beruht - wie das christliche Weltbild der Beschwerdeführer -, mit dem an den hessischen Schulen herrschenden Meinungs- und Wertepluralismus nicht zu vereinbaren ist (BS S. 11 ff). Das heißt Eltern, die nicht bereit sind, die Gebote und Verbote ihres Glaubens, nach denen sie ihre Kinder erziehen, zu Gunsten des allgemeinen Werte- und Meinungspluralismus aufzugeben, deren Glau-benserziehung wird in der Schule nicht respektiert und toleriert.

 

Ihr Nichtannahmebeschluss ebenso wie der des ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts (vom 29.03.2003, AZ 1 BvR 436/03) geben zu tiefer Besorgnis Anlass, ob der im Grundgesetz gewährleistete Schutz von Minderheiten beim Bundesverfassungsgericht noch in guten Händen ist, insbesondere ob christliche Minderheiten noch geschützt werden. Beide Beschlüsse ignorieren bindendes, geltendes Elternrecht, nämlich z.B. BVerfGE 93,1/17:

 

„Im Verein mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, der den Eltern die Pflege und Erziehung ihrer Kinder als natürliches Recht garantiert, umfasst Art. 4 Abs. 1 GG auch das Recht zur Kindererziehung in religiöser und weltanschau-licher Hinsicht. Es ist Sache der Eltern, ihren Kindern diejenigen Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln, die sie für richtig halten. Dem entspricht das Recht, ihre Kinder von Glaubensüber-zeugungen fernzuhalten, die den Eltern falsch oder schädlich erscheinen.“

 

In jener Entscheidung hielt das Bundesverfassungsgericht das elterliche Erziehungs-recht der anthroposophischen Beschwerdeführer durch ein Kreuz an der Wand eines Schulklassenzimmers für unzumutbar verletzt. In dem Fall, den Sie zu entscheiden hatten, hielten Sie das Erziehungsrecht der christlichen Beschwerdeführer für nicht verletzt, obwohl diese weit massivere Eingriffe in ihr Elternrecht geltend gemacht haben, als sie je von einem stummen Kreuz ausgehen können.

 

In tiefer Besorgnis um unseren freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, der dahingegeben ist, wenn Sie und Ihre Kollegen die Grundrechte nicht mehr zum Schutz von Minderheiten anwenden.

 

 

Hochachtungsvoll

 

G. Eckermann

 

 

* Anlage S. 16a - 16e der Verfassungsbeschwerde vom 23.08.2004 sind zu finden in der vorherigen Meldung: Stellungnahme zum Nichtannahmebeschluß des BVerfG, anhaengezurstellungnahme.pdf