OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25.07.2018 - 2 UF 18/17

Tenor

I. Auf die Beschwerden des Kindes A... und der Kindesmutter wird der am 21.11.2016 erlassene Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Düsseldorf abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Familiengerichtliche Maßnahmen sind nicht veranlasst.

II. Gerichtskosten für das Verfahren in beiden Instanzen werden nicht erhoben;außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

III. Der Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.

Mit Beschluss vom 21.11.2016 hat das Amtsgericht der Kindesmutter unter Fristsetzung bis zum 31.12.2016 aufgegeben, das am 19.02.2005 geborene Kind A... (nachfolgend: B...) an einer öffentlichen Schule oder einer anerkannten Ersatzschule anzumelden und das Kind einer Beschulung zuzuführen; zudem hat es der Kindesmutter die Auflage erteilt, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen, den täglichen Schulbesuch sicherzustellen, mit der Schule bzw. den Lehrern zusammenzuarbeiten, Maßnahmen im Hinblick auf das Schulproblem zu unterstützen und nicht zu boykottieren. Wegen des der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalts und der Entscheidungsgründe wird auf den Beschluss verwiesen.

Gegen diese Entscheidung wenden sich sowohl die Kindesmutter als auch das betroffenen Kind. Sie machen geltend, eine Kindeswohlgefährdung liege trotz des unterbleibenden Schulbesuchs nicht vor. Familiengerichtliche Maßnahmen seien wegen der Verletzung der öffentlichrechtlich normierten Schulpflicht nicht veranlasst.

II.

Die gemäß § 58 FamFG statthaften und auch im Übrigen zulässigen Beschwerden des - von seiner Mutter vertretenen - betroffenen Kindes sowie der Kindesmutter sind in der Sache begründet. Sie führen zur Abänderung der Entscheidung des Amtsgerichts dahingehend, dass familiengerichtliche Maßnahmen nicht veranlasst sind.

Die Voraussetzungen für familiengerichtliche Maßnahmen gemäß §§ 1666, 1666a BGB sind nicht gegeben.

§ 1666 Abs. 1 BGB setzt für ein Einschreiten der Familiengerichte bei Gefährdung des Kindeswohls voraus, dass das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet ist und die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Eine abstrakte Gefährdung reicht für ein familiengerichtliches Einschreiten nach dieser Vorschrift nicht aus. Vielmehr ist Voraussetzung für eine Kindeswohlgefährdung im Sinne von § 1666 Abs. 1 BGB, dass eine gegenwärtige oder zumindest unmittelbar bevorstehende Gefahr für die Kindesentwicklung abzusehen ist, die bei ihrer Fortdauer eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. An den Grad der Wahrscheinlichkeit dieser Gefährdung sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und gewichtiger der drohende Schaden ist (Olzen in Münchener Kommentar zum BGB, 7. Auflage, § 1666 Rn. 50 m.w.N.). Für eine mit der Trennung des Kindes von den Eltern verbundene Sorgerechtsentziehung ist ein elterliches Fehlverhalten in einem solchen Ausmaß erforderlich, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Erforderlich für die Annahme einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes ist, dass bereits ein Schaden eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (BVerfG NJW 2015, 23 ff. Rn. 23). Es ist nicht Zweck der gesetzlichen Regelung, die Ausfluss des staatlichen Wächteramts gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG ist, für eine bestmögliche Förderung des Kindes durch seine Eltern zu sorgen. Das Grundgesetz hat die primäre Entscheidungszuständigkeit von Eltern zur Förderung ihres Kindes anerkannt. Dabei wird auch in Kauf genommen, dass Kinder durch Entscheidungen der Eltern wirkliche oder vermeintliche Nachteile erleiden (BVerfG, FamRZ 2014, 907 ff . Rn. 18).

Nach diesen Maßstäben sind hier weder eine - teilweise - Sorgerechtsentziehung noch familiengerichtliche Maßnahmen in Form von Auflagen - Ge- und Verboten - gerechtfertigt. Eine gegenwärtige oder unmittelbar bevorstehende Gefahr für die Kindesentwicklung, die bei ihrer Fortdauer eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls B... mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt, kann nicht angenommen werden.

Dass B... bislang weder eine öffentliche Schule noch eine staatlich anerkannte Ersatzschule besucht bzw. besucht hat und anzunehmen ist, dass er dies auch in Zukunft nicht tun wird, reicht allein für familiengerichtliche Maßnahmen nach § 1666 BGB nicht aus. Nach § 1666 Abs. 3 Nr. 2 BGB gehören zu den gerichtlichen Maßnahmen nach § 1666 Abs. 1 BGB zwar insbesondere Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen. Aber auch ein entsprechendes Gebot ist nur zulässig, wenn eine Kindeswohlgefährdung nach § 1666 Abs. 1 BGB vorliegt; dies kann hier nicht angenommen werden.

Nach den Ergebnissen der überzeugenden schriftlichen Gutachten der D... vom 22.03.2018 sowie der C... vom 13.09.2017, die durch das Ergebnis der Anhörung von B... sowie der übrigen Beteiligten bestätigt werden, ist der Entwicklungsstand B... in körperlicher, kognitiver, sprachlicher, motivationaler, emotionaler und sozialer Hinsicht als normgerecht einzustufen und in jeder Hinsicht altersgemäß. Bindungserleben und -verhalten B... sind ebenfalls als normgerecht anzusehen. Der Junge hat eine positive und tragfähige Beziehung zu seiner Mutter. Altersgruppenkontakte haben für B... eine hohe Bedeutung und werden von ihm regelmäßig gepflegt. Kontakt zum Vater hat B... nicht und lehnt einen solchen auch ab. Ein erhöhtes Entwicklungsrisiko B... ist nicht erkennbar; im Vergleich mit seiner Altersgruppe ist die Wahrscheinlichkeit für ein Auftreten von Erlebens- und Verhaltensauffälligkeiten im weiteren Verlauf der Entwicklung nicht erhöht. B... spricht sich gegen einen Schulbesuch aus. Die Willensbekundungen des Jungen sind als zielorientiert, stabil, intensiv und eigenständig bzw. autonom einzustufen. Die Kindesmutter respektiert den Wunsch B..., "frei" zu lernen. Sie lehnt es ab, B... gegen seinen Willen zum Besuch einer Schule zu zwingen. Eine aus psychologischer Sicht bedeutsame Einschränkung des Förderaspektes und/oder des Aspektes der Vermittlung von Regeln und Werten ergibt sich vor dem Hintergrund der übrigen erzieherischen Haltungen und Verhaltensweisen der Mutter nicht. Die Alltags- und Versorgungssituation des Kindes stellt sich als stabil und problemlos dar. Die Kindesmutter ist über die Entwicklung, Stärken, Schwächen, Sozialkontakte und Aufenthaltsorte ihres Sohnes ausgeprägt informiert. Sie hat sich intensiv mit der Erziehungsaufgabe und ihren Erziehungszielen der Selbstverantwortung und Gemeinschaftsfähigkeit auseinandergesetzt . B... verfügt über ein unbeeinträchtigtes Sozialverhalten. B... ist nicht den Gruppen der Schulverweigerer zuzuordnen, für welche die Wahrscheinlichkeit gravierender Entwicklungsbeeinträchtigungen zumindest grob eingeschätzt werden kann. Er wächst in einer anregungsreichen Umgebung auf. Im Leben des Kindes spielen beispielsweise verbale Kommunikation, Sport, Kontakt mit anderen Kindern, kreativer Ausdruck und Ausflüge eine bedeutsame Rolle. Die Kindesmutter ist für B... im Alltag verfügbar und zur Hilfestellung beim Lernen fähig. B... stehen vielfältige, entwicklungsgerechte Lernmaterialien zur Verfügung. B... liegt aus testdiagnostischer Sicht bei einer normal ausgeprägten allgemeinen Leistungsfähigkeit im Vergleich zu seinen Altersgenossen im schulischen Leistungsstand in Bezug auf die Basisfertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen etwa ein Schuljahr zurück. Bei den durch die C... durchgeführten Tests fielen die langsame Arbeitsgeschwindigkeit B... und dessen Bestreben, alle Aufgaben so korrekt wie möglich zu beantworten, auf. Mehrfach war bei den schulpsychologischen Tests erkennbar, dass B... zu kompliziert dachte und dadurch am unmittelbaren Aufgabenverständnis scheiterte.

Anlass für die Annahme einer konkreten Gefährdung der weiteren Entwicklung B... besteht auch vor dem Hintergrund des Ergebnisses des schulpsychologischen Gutachtens der C... nach dem B... aus testdiagnostischer Sicht bei einer normal ausgeprägten allgemeinen Leistungsfähigkeit im Vergleich zu seinen Altersgenossen im schulischen Leistungsstand in Bezug auf die Basisfertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen etwa ein Schuljahr zurückliegt, nicht. Eine erhebliche Schädigung B... lässt sich bei weiterhin unterbleibendem Schulbesuch nicht mit der erforderlichen Sicherheit voraussehen. Hierzu hat die Sachverständige C... zutreffend ausgeführt, dass das Auftreten von Rückständen in den genannten Basisfertigkeiten von etwa einem Jahr auch bei Kindern im regulären Schulbesuch eine nicht unübliche Schullaufbahnentwicklung ist. Soweit die Sachverständige D... die Vermutung geäußert hat, dass B..., hätte er seit sechseinhalb Jahren eine Schule besucht, heute beispielsweise eine höhere Arbeitsgeschwindigkeit, ein höheres Lesetempo, ausgeprägtere mathematische Fertigkeiten und stärkere oppositionelle Tendenzen, d.h. eine geringere Anpassungsbereitschaft, zeigen würde, ändert dies nichts. Dies lässt sich, wie die Sachverständige D... weiter zutreffend ausgeführt hat, nicht belegen. Damit lässt sich ein Kausalzusammenhang zwischen den aufgezeigten Rückständen in den Basisfertigkeiten und dem bislang unterbliebenen Schulbesuch nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen. Dass ein zukünftig unterbleibender Schulbesuch zu erheblichen Nachteilen für B... führt, kann ebenfalls nicht angenommen werden. Nach Einschätzung der Sachverständigen D..., die der Senat aufgrund der persönlichen Anhörung B... sowie der übrigen Beteiligten teilt, ist eine Überforderung der Kompetenz B..., mit der Entscheidung der Mutter zu leben, ohne auffällig zu werden, aktuell weder belegbar, noch - kurz- bis mittelfristig - zu erwarten bzw. überwiegend wahrscheinlich. Sowohl der Kindesmutter als auch B... ist bewusst, dass der weitere Lebensweg des Jungen vom Erwerb eines anerkannten Schulabschlusses abhängig ist. Nach ihren glaubhaften Angaben strebt B... den Erwerb zumindest des Hauptschulabschlusses, möglichst jedoch des Realschulabschlusses oder der Allgemeinen Hochschulreife durch Ablegung einer nach dem Schulgesetz möglichen "Nichtschülerprüfung" (= "Externenprüfung") an und will zur Vorbereitung hierauf die Dienste der "E...", einem Unternehmen, das Dienste zur Unterstützung des Erwerbs von Schulabschlüssen im Rahmen von "Nichtschülerprüfungen" anbietet, in Anspruch nehmen. Anhaltspunkte dafür, dass die Angaben der Kindesmutter nicht zutreffend sind und sie ihre erklärte Absicht der Anmeldung B... bei der "E..." nicht in die Tat umsetzen wird, sind nicht ersichtlich. Die Kindesmutter ist an einem erfolgreichen Schulabschluss B... im Wege einer "Nichtschülerprüfung" interessiert und begleitet und unterstützt B... beim Lernen. Sie stellt ihm entwicklungsgerechte Lernmaterialien zur Verfügung. Es ist anzunehmen, dass sie B... auch weiterhin in der von ihr erklärten Weise unterstützen wird. Dem steht nicht entgegen, dass es zwischen den Angaben B... und derjenigen der Kindesmutter zu den bisherigen Kontakten zur "E..." Unstimmigkeiten gibt. B... hat angegeben, er werde bereits beim Lernen durch die "E..." unterstützt, wobei er wegen der in der schulpsychologischen Untersuchung aufgetretenen Defizite einen separaten Block erhalten habe. Nach den Angaben der Kindesmutter ist B... mit den Materialien der "E..." nur mittelbar über andere "Freilerner" in Kontakt gekommen und bislang bei der "E..." noch nicht angemeldet; er soll zu Frau F... telefonischen Kontakt auf freundschaftlicher Basis haben. Aus dieser Unstimmigkeit lässt sich keine Abneigung oder gar Ablehnung der Kindesmutter gegen eine zukünftige entgeltliche Inanspruchnahme der Dienste der "E..." ableiten, zumal die Kindesmutter auch erklärt hat, B... nach Absprache mit der Schulpsychologin Cj... einer weiteren schulpsychologischen Testung zu unterziehen. Ob und inwiefern B... derzeit bereits eine Unterstützung durch die "E..." erhält, kann daher dahinstehen. Bei der "E..." handelt es sich zwar nicht um eine staatlich anerkannte Schule. Es ist allerdings nicht ersichtlich, dass die vom Jugendamt vorgeschlagene Distanzbeschulung mit Anbindung an eine staatliche Schule gegenüber der von B... und der Kindesmutter beabsichtigten Verfahrensweise für den Jungen vorteilhafter wäre. Insbesondere besteht kein Grund zur Annahme, dass eine Distanzbeschulung eine höhere Gewähr für einen erfolgreicheren Schulabschluss bietet. Bei einer Distanzbeschulung erfolgt zwar eine individualpädagogische Beschulung im häuslichen Umfeld, was B... Vorstellungen vom Lernen entgegenkäme. Die Beschulung ist jedoch an eine staatliche Schule oder anerkannte Ersatzschule angebunden. Mit einer Anbindung an derartige Schulen notwendigerweise verbunden sind verbindliche Vorgaben betreffend Lerninhalten, Lernpensum und Lernmaterialien durch einen Pädagogen. Eine entsprechende Beschulung lehnt B... ab. Sie ist mit seinem Konzept des "freien Lernens" nicht vereinbar. Die ablehnende Haltung des Jungen gegenüber einer Beschulung hat sich über Jahre hinweg verfestigt. Angesichts dessen ist nicht ersichtlich, dass eine mit einer Aufnahme in eine Distanzbeschulung verbundene grundlegende Veränderung des Lernkonzepts im Hinblick auf den Lernerfolg mit Vorteilen gegenüber dem von B... angestrebten "freien Lernen", unterstützt durch die "E...", verbunden wäre. Soweit bei der schulpsychologischen Untersuchung Defizite B... in der Arbeitsgeschwindigkeit und im unmittelbaren Aufgabenverständnis aufgetreten sind, hat die Kindesmutter im Anhörungstermin glaubhaft erläutert, wie sie diesen begegnet. Seit dem Abschlussgespräch mit der Sachverständigen C... übt sie mit B... das Lösen von Aufgaben in einer vorgegebenen Zeit und stellt hierzu eine Uhr auf. Dass derzeit eine weitergehende Reaktion auf die festgestellten Defizite angezeigt ist, ist nicht erkennbar. Die Kindesmutter hat sich zudem bereit erklärt, B... zum nächstmöglichen Zeitpunkt in Absprache mit der Schulpsychologin C... einer schulpsychologischen Testung unterziehen zu lassen und das Jugendamt über deren Ergebnis sowie die Anmeldung bei der "E..." zu unterrichten. Sollte die Kindesmutter ihre Absichtserklärungen entgegen der Annahme des Senats nicht in die Tat umsetzen, wird das Jugendamt die Anregung eines neuen familiengerichtlichen Verfahren beim Amtsgericht zu prüfen haben.

Nachdem, wie aufgezeigt, die Verletzung der öffentlichrechtlichen Schulpflicht gemäß §§ 34 ff. SchulG NRW allein mangels konkreter Kindeswohlgefährdung für familiengerichtliche Maßnahmen nach § 1666, 1666a BGB nicht ausreicht, bleibt es den Schulaufsichtsbehörden überlassen, für eine Erfüllung der Schulpflicht Sorge zu tragen.

Weitere Umstände als der unterbliebene und weiterhin unterbleibende Schulbesuch, die zu familiengerichtlichen Maßnahmen Veranlassung geben könnten, sind im Verfahren nicht zu Tage getreten.

II.

Gemäß § 34 Abs. 3 FamFG kann eine Entscheidung ohne persönliche Anhörung des Kindesvaters ergehen, da dieser trotz ordnungsgemäßer Ladung zum Senatstermin am 16.07.2018 unentschuldigt nicht erschienen ist und dessen persönliche Anhörung zur weiteren Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts nicht veranlasst ist. Der Kindesvater hat seit Jahren keinen Kontakt zu B... Ein solcher wird von B... abgelehnt.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 FamFG.

Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf §§ 40, 45 Abs. 1 Nr. 1 FamGKG.

Veranlassung zur Zulassung der Rechtsbeschwerde (§ 70 Abs. 2 FamFG) besteht nicht.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.